Strafverteidigertag Rechtspolitik

Vom (unmöglichen) Zustand der Strafverteidigung

Eröffnungsvortrag zum 40. Strafverteidigertag, Frankfurt/Main 2016
Rechtsanwalt Thomas Scherzberg

PDF-Version

Thomas Scherzberg
Vom (unmöglichen) Zustand der Strafverteidigung

Einleitung
Lassen Sie mich gleich mit dem schwierigsten Teil des Vortrags beginnen: Dem Jubiläum. Wie soll man über den Strafverteidigertag und seine 40-jährige Geschichte sprechen, ohne dabei in den Jargon der Firmenjubiläen und Grabreden zu verfallen? Am besten ist vielleicht, wenn ich es einfach sein lasse und weder augenzwinkernd noch böse von Unzulänglichkeiten und Fehlern berichte, noch von Heldentaten und Sternstunden. Der Strafverteidigertag ist kein »guter Kerl«, auf den wir heute anstoßen können. Er ist ein Kind seiner Zeit - und das heißt: Er ist seit vier Jahrzehnten ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, vor deren Hintergrund Strafverteidigung stattfindet. Das ist heute nicht weniger wahr, als vor 40 Jahren, auch wenn es seinerzeit möglicherweise augenfälliger war als heute. Sprechen wir also davon.

Als sich damals 245 Strafverteidiger und Strafverteidigerinnen zum ersten Mal in Hannover trafen, stand - nicht nur vor den Strafkammern - vieles dessen zur Disposition, was den Kernbestand einer freien Gesellschaft ausmacht. »Der überwunden geglaubte Obrigkeitsstaat, der den Beschuldigten nicht als Subjekt des Prozesses, sondern als Objekt des Verfahrens ansieht, drängt wieder nach vorn«, schrieb Hans Dahs 1976|1 .
Durch die Gerichtssäle zog sich für jedermann sichtbar die Konfliktlinie zwischen einem Staat, der bei der ersten Krise sofort in autoritär-staatliche Routine zurückverfiel, und seinen Kritikern und Gegnern, hier vertreten durch Beschuldigte und ihre Verteidigung. Denn dass mit Kontaktsperregesetz, Trennscheiben, erleichterten Verteidigerausschlüssen, Verteidigerpostkontrolle und anderen Zumutungen eine viel allgemeinere Freiheit zur Disposition gestellt wurde, spürten nicht nur die betroffenen Verteidiger*innen. Es war die Zeit der Berufsverbote, der Straßensperren und Rasterfahndungen des »Kommissar Computer«, der Fernsehfahndung nach Staatsfeinden in Eduard Zimmermanns Denunziantenstadel und der Überwachung linker Opposition durch den Verfassungsschutz -- jener Behörde, die das Freizeitverhalten auch einiger Kolleg*innen hier im Saal jahrelang analysierte, aber bis zuletzt nichts wissen wollte von der Existenz einer faschistischen Terrororganisation, die allem Anschein nach immerhin zehn Menschen ermordet hat. Und weil ein gebrochenes Verhältnis zur Staatsmacht damals in noch größeren Teilen der Bevölkerung zum kulturellen Kapital gehörte, wie heute ein »guter Internetauftritt«, fanden sich vor 40 Jahren eben auch solche Teilnehmer ein, denen heute die Rechte von Beschuldigten keinen Cent mehr wert sind. Unter der Teilnehmernummer 233 meldete sich damals zum Beispiel ein »Gerd« zur Tagung an, heute bekannt als Gerhard »Wegsperren-und-zwar-für-immer« Schröder.

Auch das ist Zeitgeschichte, ein Indikator gesellschaftlicher Veränderungen. Wenn aus dem Gerd von damals ein Gerhard mit multipler Ehrendoktorwürde und ebensolchen Aufsichtsratsgehältern geworden ist, dann zeugt dies vor allem von veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, denen Gerd so ausgeliefert war, wie es der Gerhard ist.

Am Kern der Auseinandersetzung ändert dies nichts. Denn im Kern geht es bei Strafverteidigung um die Auseinandersetzung zwischen einem mit umfangreichen Gewaltmitteln ausgestatteten Staat und dem tendenziell machtlosen Einzelnen, dessen Freiheit auf dem Spiel steht. Genau darum geht es beim Strafverteidigertag seit 40 Jahren. Dahs berühmte Aussage »Strafverteidigung ist Kampf«, ist  aber eben nicht nur »Kampf ums Recht«, wie das Zitat weitergeht, sondern Kampf um die Freiheit. Strafverteidigung ist der Kampf um die Freiheit unserer Mandanten. Das wirkt angesichts des großen Kampfs ums Recht eher klein und unbedeutend. Es geht um die scheinbar so kleine Freiheit eines Sicherungsverwahrten, dem die Anstalt und die Gutachter aus der Angst vor einem spektakulären Rückfall die positive Prognose verweigern, oder um die kleine  Freiheit des Mandanten in der Untersuchungshaft, die keine Strafe sein soll, aber sein soziales Leben zerstört, um die Chance auf eine Bewährungsstrafe usw.

Darum geht es – unter veränderten Bedingungen – damals wie heute. Wie schwer es zugleich ist, einer zunehmend auf die »Opfer« von Straftaten fixierten Öffentlichkeit und einer auf »schnellere«, »effizientere« und »härtere Strafen« reduzierten Rechtspolitik verständlich zu machen, dass es bei Strafverteidigung immer auch um die Freiheitsrechte aller Bürger gegenüber dem Staat geht, hat sicher jeder in diesem Saal schon erfahren müssen. Es ist – mehr als ein PR-Problem – eine oft schwierige Erkenntnis, dass sich das Maß an Rechtsstaatlichkeit daran bemisst, wie viel Rechte das Justizsystem eben jenen einräumt, denen vorgeworfen wird, Recht gebrochen zu haben. Anders formuliert: Ausgerechnet am kleinen Gauner, der Touristen »antanzt«, um ihnen das Smartphone zu klauen, haben sich so große Ideale wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu beweisen – und nicht durch heroische Taten.

Daher hat Strafverteidigung an der Seite des beschuldigten Mandanten zu stehen – und nicht nur, weil theoretisch jeder einmal in die Situation geraten kann, einer Straftat beschuldigt zu werden.
»Der Verteidiger hat allein die Interessen seines Mandanten zu vertreten«, haben wir vor zehn Jahren formuliert, und zwar »mit allen Mitteln, die das Gesetz ihm zulässt und die ihm sein Können gibt. Jede Konstruktion einer Verpflichtung eines Rechtsanwalts, gegen die Interessen des Mandanten an einem staatlichen Strafverfolgungsziel mitzuwirken ist rechtsstaatwidrig«.|2

Die äußeren Bedingungen, unter denen diese Aufgabe erfüllt werden muss, sind allzu oft »unmöglich«. Darüber möchte ich heute zu Ihnen sprechen; und daher auch der Titel: »Vom (unmöglichen) Zustand der Strafverteidigung«. Ich nehme wohl nicht zu viel vorweg, wenn ich bereits jetzt nahelege, dass Sie die einschränkenden Klammern um das Adjektiv »unmöglich« an einigen Stellen getrost wegstreichen können.

Unmögliche Zustände
Fangen wir mit einem Geständnis an: Der Titel des diesjährigen Eröffnungsvortrages ist geklaut. Bereits vor mehr als zwanzig Jahren erschien beim Institut für Kriminalwissenschaften in Frankfurt ein Band unter dem Titel ‚Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts‘!|3 »Unmöglich« sei der Zustand u.a. wegen der »hektische[n] Betriebsamkeit, die Gesetzgeber, Strafrechtspraxis und Teile der Strafrechtswissenschaft beherrscht«, wegen der »Übergriffe und Versäumnisse, [der] Verschärfungen, Verformungen und Zerstörungen, welche die offizielle Kriminalpolitik dem Strafrecht und dem Strafverfahrensrecht seit langem zumutet«|4 .

Das klingt recht allgemein. Und ist beim Kampf ums Recht wohl anders gar nicht möglich. Ich habe mich dennoch bedient – auch weil die meisten der 27 Autoren in vielfältiger Form für und in den Strafverteidigertagen der letzten 40 Jahren aktiv waren. Und nicht ganz zufällig decken sich die Gründungsjahre ‚genuin Frankfurter Strafrechtsdenkens‘|5 mit den Entstehungsjahren der Strafverteidigervereinigungen. Weil es hier aber nicht vorrangig um Strafrecht, sondern um Strafverteidigung geht, weil wir nicht vom Kampf ums Recht, sondern dem Kampf um die Freiheit unserer Mandanten leben, will ich konkreter werden und Ihnen anhand von fünf Aspekten unserer Arbeit erläutern, in welchen Bereichen der Zustand der Strafverteidigung unmöglich ist, oder droht unmöglich zu werden. Die Auswahl der Aspekte ist subjektiv und keinesfalls abschließend.

1. Vom unmöglichen Zustand der Strafverteidigung aufgrund der Rechtsetzung

Ich spreche von der sog. »Verständigung im Strafverfahren«, von der uferlosen Ausweitung von Tatbeständen, von der Kronzeugenregelung, vom Täter-Opfer-Ausgleich, von der Nebenklage. Von Bedingungen, die zu einer zunehmenden Konsensorientierung im Strafverfahren führen und einer konsequenten Freispruchverteidigung entgegenstehen. Zu allen diesen Punkten haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten inhaltlich Stellung genommen.

Morgen werden wir erneut in einer Arbeitsgemeinschaft über die Nebenklage diskutieren. Dass die Ausweitung der Nebenklage weitreichende nicht nur atmosphärische Auswirkungen auf die Beschuldigten- bzw. Angeklagtenrechte haben, muss nicht noch einmal Erwähnung finden. Schünemann hat schon 2002 von der Zerstörung der Strafverfahrensbalance gewarnt, insbesondere durch die Abschirmung der »zugleich zentralen und problematischen Zeugen gegenüber der ihre Glaubwürdigkeit auf die Probe stellenden Verteidigung«|6 .  Die Folgen für die Wahrheitsfindung hat Steller ausführlich nachgewiesen: »Das Lügen (wird) vereinfacht«.|7 Stefan Barton, der morgen referieren wird, spricht gar von einer »viktimären Gesellschaft«, in der das »Opfer« zum zentralen Bezugspunkt der Rechtsetzung geworden ist. Um zu verstehen, wie schwierig das Verhältnis zwischen Nebenklage und Verteidigung ist, muss man nicht erst zum NSU-Verfahren nach München reisen, wo einige der heute anwesenden Strafverteidiger Nebenkläger vertreten. Wir werden andererseits am Beispiel des Rechtsanwalts und Nebenklagevertreters Henry Ormond, über den Werner Renz morgen sprechen wird, erfahren, welche historische Bedeutung eben dieser Nebenklage in NS-Verfahren zukam, in denen die deutsche Justiz alles daran setzte, die juristische Bearbeitung des Nationalsozialismus möglichst zu verhindern.

Die Folgen der in den vergangenen Jahren ausgedehnten Nebenklagerechte für die Strafverteidigung –und ihren Kampf um die Freiheit - sind in jedem Falle erheblich. Zunehmend kann beobachtet werden, dass Kollegen, die ohne Zweifel die Kunst der Strafverteidigung beherrschen, als Nebenklägervertreter diese Kunst gegen Beschuldigte und Angeklagte wenden und damit eine andere Akzentuierung in den Strafprozess mit einbringen, als die, die wir oft von anderen Kollegen gewohnt sind, die sich entweder der Staatsanwaltschaft in einem Satz anschließen oder aber in überschießender Emotionalität nicht unbedingt ihrem Mandanten dienen.
Auch der Deal und die Auswirkungen auf die Strafverteidigung war immer wieder Thema des Strafverteidigertages, so z.B. 2013 in Freiburg, als wir auch darüber diskutierten, ob der Deal Auswirkungen auf die Qualität der Verteidigung hat. Da immer wieder gerade von den Amtsgerichten von Deals berichtet wird, die jenseits der gesetzlichen Regelung ohne Protokollierung wie selbstverständlich durchgeführt werden, und der BGH durch seine Rechtsprechung in der letzten Zeit die Anforderungen an eine Protokollierung immer mehr aufweicht, wird uns auch dieses Thema weiter begleiten - Auswirkungen im Hinblick auf zunehmende Konsensorientierung im Strafverfahren liegen auf der Hand.

Die Ausweitung von Tatbeständen war genau so immer wieder Thema unserer Beratungen, auch morgen wird in der AG »Korruptionsstrafrecht« über die Erweiterung der Strafbarkeit der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr, über die Unbestimmtheit der Tatbestände Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung debattiert. In der AG »Terrorismusstrafrecht« über die weiten Tatbestände insbesondere der §§ 129a und 129b StGB, über die Verpolizeilichung des Strafrechts. Stichwort: Vorsicht beim Kauf von Reinigungsmitteln in Baumärkten!

Aber wir finden diese Problematik quer durch das Strafgesetzbuch und die Nebengesetze, erwähnt sei insbesondere das BtmG, der Untreuetatbestand, aber selbst der § 201a I Nr.2 StGB, der es gebietet, dass wir morgen Abend/Nacht nach der Abendveranstaltung besser unsere Fotohandys zu Hause lassen, damit wir nicht Bilder von Betrunkenen auf dem Heimweg schießen und uns damit strafbar machen. Prantl hat in der Süddeutschen treffend dazu bemerkt: »Es ist gut, wenn das Recht sensibel ist. Nicht gut ist es, wenn es hysterisch wird«|8 .

Ich will die anstehenden Diskussionen zu diesen Punkten nicht vorwegnehmen, mich interessieren vielmehr die Auswirkungen auf den alltäglichen Strafprozess oder vielmehr: auf uns und unsere Tätigkeit, auf unseren Umgang mit Mandanten, mit Staatsanwälten und mit den Gerichten. Ich will dies am Beispiel der Kronzeugenregelung und des TOA zeigen:

Auf dem 35. Strafverteidigertag 2011 in Berlin haben wir uns letztmalig mit der Kronzeugenregelung beschäftigt. Die Arbeitsgemeinschaft endete mit der einstimmigen Forderung, § 46 b StGB wieder abzuschaffen. Der Begriff des Kronzeugen existiert zwar im deutschsprachigen Raum bereits seit 1876|9 , die ersten konkreten Vorschläge zur Kodifikation findet man im Nationalsozialismus|10 . Der jetzige § 46 b StGB ist am 01.09.2009 in Kraft getreten, obwohl in nie wieder woanders zu beobachtender Einigkeit der Deutsche Richterbund, der Deutsche Anwaltsverein, die Bundesrechtsanwaltskammer und die Strafverteidigervereinigungen in einer gemeinsamen Erklärung dieses Gesetz ablehnten – ähnlich wie 1989 bei dem Vorgängergesetz, als sich auch schon die Lobbyisten von Generalbundesanwalt, Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern gegen die Haltung der überwiegenden Mehrheit der Experten durchsetzten und »politische Macht… über die Vernunft siegte«, wie Bernd Häusler in seinem Referat auf dem 14 . Strafverteidigertag 1990 - auch in Frankfurt - urteilte.|11

In der Folgezeit wurde die Auffassung vertreten, § 46 b StGB habe keine große Bedeutung erlangt|12 . Da die Bundesregierung bei der Neufassung des § 46 b StGB den Vorschlag des Bundesrates, eine Evaluationsklausel in das Gesetz aufzunehmen, ablehnte, weil der neue § 46 b StGB keine Erprobungsvorschrift darstelle und keine statistischen Erfahrungswerte zur Anwendung des § 46 b StGB vorliegen – die Anwendung des § 46 b StGB wird z.B. in der Mehrländer-Staatsanwaltschafts-Automation (MESTA) von Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, NRW und Schleswig-Holstein nicht statistisch erfasst|13 – sind Aussagen zur tatsächlichen Bedeutung im Strafverfahren schwierig.
Nicht schwierig zu beurteilen ist allerdings die Bedeutung des § 46 b StGB für unsere Aufgabe als Strafverteidiger:|14 Bei der Verteidigung von Straftaten mittlerer und schwerer Kriminalität, ja beim Erstgespräch mit dem Mandanten, spätestens aber nach Vorliegen einer Anklageschrift ist mit dem Mandanten die Kronzeugenregelung zu besprechen, ob man sie selbst ablehnt oder nicht. Jeder von uns ist verpflichtet, unseren Mandanten über die bestehende Rechtslage umfassend zu informieren. Dazu gehört auch der § 46 b StGB, auch wenn grundsätzlich diese Regelung eine Zumutung für die Verteidigung bedeutet. Eine unterlassene Beratung des Mandanten zu diesem Punkt kann eine Schadenersatzpflicht des Verteidigers nach sich ziehen. Malek hat dazu geraten, sich insoweit zu schützen, als dass man die entsprechende Beratung sich vom Mandanten schriftlich bestätigen lässt|15 .

Hinzu kommen Strafbarkeitsrisiken für den Verteidiger, den Zeugenbeistand oder Nebenklägervertreter gem. § 356 StGB.|16
Frahm hat für seine Dissertation 2012 eine Praktikerbefragung zur allgemeinen Kronzeugenregelung durchgeführt – unter Staatsanwälten, Strafrichtern und Strafverteidigern. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein praktisches Bedürfnis für eine allgemeine Kronzeugenregelung bestehe, antworteten 68,9 % der Staatsanwälte, 73,5 % der Richter und 95,2 % der Strafverteidiger mit Nein|17 und bei der Frage, ob sich die Kronzeugenregelung in § 46 b StGB bewährt habe, antworten nur 17,1 % der Richter, 22 % der Staatsanwälte, aber 0 % der Strafverteidiger mit »trifft zu« bzw. »trifft eher zu«|18 und abschließend bei der Frage, ob § 46 b StGB die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden bzw. der Justiz spürbar erleichtert oder verbessert habe, antworten 71,4 % der Richter, 69,5 % der Staatsanwälte und 70 % der Strafverteidiger mit der Antwort, § 46 b StGB habe keinen Einfluss auf diese Arbeit.

Es bleibt daher festzustellen, dass – wie von allen Berufsgruppen (außer Staatsanwaltschaften und Polizei) erwartet – kein stichhaltiges Argument für die weitere Beibehaltung von § 46 b StGB besteht.
Interessant für uns sind allerdings insbesondere die Antworten auf zwei Fragen, die in der genannten Untersuchung gestellt wurden: Danach wird ein Vorgehen nach § 46 b StGB gemäß den Angaben von 64,6 % aller Teilnehmer der Untersuchung üblicherweise von der Verteidigung angeregt|19 , dies zeigt also offensichtlich, dass § 46 b StGB sich in die Praxis der Strafverteidigung eingebürgert hat und durch die Strafverteidigung genutzt wird. Gleichzeitig sind die Strafverteidiger die Berufsgruppe, die mit über 85 % das Risiko eines Missbrauchs durch Falschbelastung als »hoch« bzw. »eher hoch« beurteilten|20 .
Nun, wer kennt das Verhalten, die Intention der Beschuldigten, besser als der Strafverteidiger?
Die Anwendung von § 46a StGB (Täter-Opfer-Ausgleich), der (ausgerechnet) durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 eingeführt wurde, beeinflusst in ähnlicher Art und Weise unsere Arbeit, allein schon deshalb, da die Rechtsprechung des BGH es genügen lässt, dass sich nicht ein Angeklagter persönlich um einen Täter-Opfer-Ausgleich bemühen muss, sondern dass es genügt, wenn dies der Verteidiger für ihn macht|21 .

Nach § 155 a StPO sollen Staatsanwaltschaft und Gerichte in jedem Stadium des Verfahrens darauf hinwirken, dass ein Ausgleich zwischen Täter und Opfer zu Stande kommt. Diese Vorschrift läuft nach unseren Beobachtungen im Erwachsenenstrafrecht fast vollständig ins Leere, ein solches »Hinwirken« findet nicht statt, obwohl solange ein TOA nicht offensichtlich unzulässig ist, Staatsanwaltschaft und Gerichte in die Prüfung einzutreten haben, ob ein solcher Ausgleich erreicht werden kann|22 . Ich habe einen solchen Prüfungsvermerk bisher noch nicht gelesen.

Die Auflage eines TOA wird seit 2001 in der StA-Statistik sowie der Strafgerichtsstatistik bei Einstellungen nach § 153a StPO nachgewiesen, nicht bei solchen nach §§ 45, 47 JGG.
Maelicke berichtet von bundesweit jährlich etwa 25.000 bis 30.000 Fällen eines Täter-Opfer-Ausgleichs, aber »selbst konservative Berechnungen halten jedoch bis zu einem Drittel der strafrechtlichen Verfahren für geeignet, einen TOA erfolgreich durchzuführen«|23 .

Gerade von Verteidigerseite ist das Instrument des § 46a StPO in den letzten Jahren immer häufiger eingesetzt worden, ohne dass dritte Vermittlungsstellen eingeschaltet werden und ohne dass diese Bemühungen in offiziellen Statistiken Eingang finden, weil diese im Vorfeld einer Hauptverhandlung angestellt werden. Nicht nur der wegen der Rechtsprechung des BGH zu 46a StPO ein gewagtes Vorgehen.
Lässt sich ein Geschädigter nicht auf Ausgleichsbemühungen ein, ist das Verfahren nach der Rechtsprechung des BGH nicht für die Durchführung eines TOA geeignet|24 . Fehlgeschlagen ist ein TOA, wenn eine Einigung wegen unterschiedlicher Vorstellungen zwischen Täter und Opfer nicht zu Stande gekommen ist|25 . § 46a StPO kann nicht angewendet werden, wenn das Opfer die bereits getroffene Vereinbarung »innerlich nicht akzeptiert«, sondern aus faktischen finanziellen Zwängen handelt|26 .

Dem Opfer wird so durch die Rechtsprechung eine Machtstellung zugeordnet, »die dazu führt dass letztlich sein Verhalten entscheidend für die Strafbestimmung ist«|27 .

Ein ungewisser Ausgang - aber mit weitreichenden Konsequenzen für die weitere Verteidigung, denn eine Freispruchverteidigung scheidet aus.
Walter hat als Ergebnis eines Forschungsvorhabens zum TOA festgehalten, dass eine etwaige dahingehende Empfehlung des Verteidigers offenbar »von dem Selbstbild ab(hänge), das ein Anwalt von sich und seiner Tätigkeit hat«|28 . Nur - wie auch bei der Kronzeugenregelung gehört der TOA zu unserer Beratungspflicht.
Die Folge ist, dass die zunehmende Konsensorientierung u.a. durch Kronzeugenregelung, TOA, Deal dazu führen muss, dass es u.a. zu immer weniger Freisprüchen kommt, wie es für die Fälle mit Nebenklagevertretung schon erwiesen ist: Barton hat 2012 auf dem Strafverteidigertag in Hannover berichtet, dass weniger Freisprüche und höhere Strafen das Ergebnis der Beteiligung von Nebenklägern und ihren Vertretern ist|29 .
Und dann müssen wir feststellen, dass die Freispruchquoten in Hessen 2013 und 2014 bei 1,78% liegen! Nur, um diese Zahl mal einzuordnen – selbst unter Stalin in der Sowjetunion lag sie höher; beim Volksgerichtshof 1944 lag sie bei 40 Prozent. In westeuropäischen Ländern liegt sie im Normalfall bei zehn bis 15 Prozent und in unseren Anfangsjahren in den 70ern lag sie noch zwischen vier und fünf Prozent.
Die Generalstaatsanwaltschaft in Hessen hat die Zahl von knapp 1,78 Prozent 2014 - wie nicht anders zu erwarten war – mit der Qualität der Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaften begründet. Denn: Nur wenn eine Verurteilung wahrscheinlich sei, werde überhaupt Anklage erhoben. Das wiederum sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Vergleicht man allerdings die Zahl der Freisprüche mit denen der Einstellung des Verfahrens kann man zu einem anderen Ergebnis gelangen: Heinz dokumentiert seit vielen Jahren das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland. Dabei ist eine Zahl in Deutschland seit 40 Jahren auffällig konstant geblieben: Zwischen 81 und 84 Prozent aller vor Gericht stehenden Angeklagten werden verurteilt. Im gleichen Zeitraum ist aber die Freispruchquote von 4,5 Prozent auf drei Prozent gefallen und der Anteil der Einstellungen des Verfahrens bei den Nicht-Verurteilten in angeklagten Verfahren von 69,5 Prozent auf über 80 Prozent gestiegen|30 .

Es wird sich lohnen, diese Entwicklung weiter zu verfolgen, u.a. Kinzig forscht ja hinsichtlich nach U-Haft ergangener Freisprüche und hat schon erste Ergebnisse präsentiert, wonach es u.a. gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt|31 .
Deal, Kronzeugenregelung, TOA, aber selbstverständlich auch die ständige Ausweitung von Tatbeständen sind Themen, die uns weiter beschäftigen. Sie beeinflussen das Prozessverhalten, führen u.U. zu überhaupt keinen maßgeblichen Strafreduktionen, verhindern eventuell erfolgreiche Freispruchverteidigungen. Dies mögen keine »unmöglichen« Zustände sein. Wir haben ja gesehen, dass auch die Strafverteidigung mitunter Teil dieses Zustandes ist. Der Zustand aber ist alles andere als gut.

2. Vom unmöglichen Zustand der Strafverteidigung aufgrund des Zustands der Justiz –
Ausbildung von Juristen, Auswahl zum Richteramt, soziale Kompetenz.

»Nur die Lebenserfahrung und die Menschenkenntnis des Richters (können) schließlich allein die Wahrheit finden«. (BGHSt,38, S.28).

Ich möchte mich mit diesen Punkten beschäftigen, da nicht nur ich seit Jahren beobachte, dass die Rolle der Strafverteidigung in vielen Situationen zu der eines Übersetzers für den Mandanten wird. Zunehmend entsteht der Eindruck, dass unseren Mandanten und uns juristisch gut ausgebildete Richter und Staatsanwälte gegenüber stehen, wir uns aber nicht mehr trauen, unsere Mandanten reden zu lassen - aus Angst, Missverständnisse auszulösen, Ressentiments zu bedienen und Vorurteile zu bestätigen. Das führt immer öfter dazu, selbst Erklärungen für die Mandanten abzugeben, um kein Einfallstor für eine hohe Verurteilung oder überhaupt eine Verurteilung zu geben. Wir wissen, dass nicht erst seit gestern Richter und Beschuldigte in Strafverfahren oft nicht derselben sozialen Schicht entstammen. Das Problem der Kommunikation zwischen beiden scheint sich mir aber verschärft zu haben - und wir erleben immer öfter, dass ein Richter, der seine Examen mit Prädikat abgelegt hat, im wahrsten Sinne nicht dieselbe Sprache spricht, wie der Beschuldigte, selbst wenn beide in derselben Stadt groß geworden sind.

Klaus Malek hat in seinem Eröffnungsvortrag zum 35. Strafverteidigertag 2011 in Berlin festgestellt: »Eine professionelle Ausbildung des Strafrichters, wie sie anderen Berufen eigen ist, zur Bewältigung seiner „ureigensten“ Aufgabe, der Feststellung der materiellen Wahrheit…ist nicht vorgesehen«|32 .
Bei der Suche nach den Ursachen hierfür fällt zunächst der Blick zwangsläufig auf die Universitäten. Wir werden morgen und übermorgen an der Goethe-Universität tagen, in Kooperation mit dem Fachbereich Jura. Dieser Fachbereich wirbt mit den Forschungsschwerpunkten Grundlagen des Rechts, Europäisierung und Globalisierung des Rechts, sowie Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht – versehen mit dem Hinweis, dass »insbesondere die räumliche Nähe zu internationalen und nationalen Finanzinstitutionen … die Forschungstätigkeit des Schwerpunktes des Wirtschafts- und Arbeitsrechts (prägen). Im Mittelpunkt … stehen Fragen des Kapitalgesellschafts- und Währungsrechts des europäischen, internationalen und deutschen Bank -, Kapitalmarkt- und Versicherungsrechts sowie des Arbeitsrechts«. Und die Einrichtung der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung legitimierte Jahn in einem Interview mit der NJW im Jahr 2010 damit, dass die großen Wirtschaftsstrafverfahren der vergangenen Jahrzehnte gezeigt hätten, dass es an der Zeit sei, die Strafverteidigung an der Universität zu erforschen. Das aber ist nicht Blindheit gegenüber der ganzen anderen Wirklichkeit des Strafrechts, sondern es ist gewissermaßen die Eintrittskarte, die man heutzutage lösen muss, will man Unterstützung für eine solche Einrichtung erhalten. Bereits in der universitären Ausbildung werden also Schwerpunkte gesetzt, die nicht vorrangig darauf ausgerichtet sind, Richter mit besonderer sozialer Kompetenz auszubilden.

Natürlich erschreckt es, dass in den jahrzehntelangen Untersuchungen von Streng zur Einstellung unter jungen Jurastudenten es mittlerweile zu einer Zustimmungsquote von 32 Prozent zur Todesstrafe kommt!!! Jetzt werden diese 32 Prozent selbstverständlich nicht alle Richter und Staatsanwälte. Die Strafvorstellungen dieser neuen Richtergeneration geben dennoch zu denken. Strengs Untersuchung, wendete man sie repäsentativ auf eine nachwachsende Generation von Strafrechtlern an, offenbart jedenfalls ein sehr unverkrampftes Verhältnis zu hohen und Höchststrafen.|33

Gerne lese ich die richterlichen Ethikrichtlinien, wonach die Richterschaft sich Folgendes vorgenommen hat: »Wir führen unsere Verfahren fair und transparent. Wir begegnen Menschen unvoreingenommen und mit Respekt, wir hören ihnen zu und nehmen sie ernst… Zuwendung und Verständnis sind von besonderer Bedeutung. Respekt vor den Beteiligten bedeutet, dass auch Uneinsichtige Anspruch auf einen fairen und auf ihre Persönlichkeit achtenden Prozess haben.« So die Mainzer Ethik-Richtlinien, nachzulesen in der Deutschen Richterzeitung von 2009.|34

Wunderbare Worte und Vorgaben. Mit Strecker  berichtet indes ein Richter über seine Kollegen, die ganz andere Probleme bei der  alltäglichen Arbeit beklagen:
»Das erste ist die Suche nach der gerechten Lösung; das zweite besteht darin, den Fall überhaupt vom Tisch zu bekommen. Nicht selten ist die Reihen- und Rangfolge der beiden Probleme auch umgekehrt«.|35 Strecker beschreibt darüber hinaus, wie die Justiz durch ihre hierarchische Struktur und dem Beförderungssystem die Chance zum beruflichen Fortkommen nur durch Anpassung eröffnet|36 : »Als Strafrichter wird er verunsichert sein…, wenn bei ihm das Verhältnis von Freisprüchen zu Verurteilungen wesentlich von dem der Kollegen abweicht«.|37

Erinnert sei auch an die Verfahren vor den Richterdienstgerichten des Landes Baden-Württembergs, in denen im Ergebnis Richter durchschnittliche Erledigungszahlen abgefordert wurden. Damit wurde das Verhalten eines Richters, der zwar mehr als seine Kollegen und besonders gründlich arbeitete, aber geringere Erledigungszahlen vorweisen konnte (vgl. RDG Baden-Württemberg, 6/12) sanktioniert.

Ein wichtiger Aspekt, der gerne übersehen wird, muss in diesem Zusammenhang besonders angesprochen werden: die Auswahl der Richter.
Nach §9 des Deutschen Richtergesetzes kann Richter werden, wer (1.) Deutscher ist, (2.) die Befähigung zum Richteramt besitzt, (3.) die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des GG eintritt und über die erforderliche soziale Kompetenz verfügt.
Da ich gerade mit eben dieser erforderlichen sozialen Kompetenz der Richter regelmäßig hadere, habe ich versucht herauszufinden, wie diese überhaupt überprüft und bewertet wird. Das Ergebnis, gerade für Hessen, darf getrost schon einmal als ein weiterer »unmöglicher Zustand« eingeordnet werden: Behördenintern entscheidet seit Jahren ein und dieselbe Person im Hess. Justizministerium über die Eignung der Bewerber. Es gibt mehr Bewerber als Stellen, viele liegen über der magischen Grenze von 17 Punkten aus zwei Staatsexamina, die meisten Nachfragen über die Bewerbungssituation werden aber wegen Vertraulichkeit nicht beantwortet. Auch nicht die Frage, wie viele Bewerber nicht angenommen werden; oder die Frage ob nach der Auswahl durch die eine Person im Ministerium, der Richterwahlausschuss noch eine weitere Prüfung vornimmt. Abgelehnte Bewerber verzichten nach entsprechenden Hinweisen fast ausnahmslos auf eine Bescheidung ihres Antrages, nehmen ihre Bewerbung zurück, sodass auch keine Aktenvermerke über diese Bewerbung existieren - für eine evtl. neue Bewerbung oder eine Bewerbung in anderen Bundesländern.
Aber zurück zur Frage nach der sozialen Kompetenz: Eine selbstverständlich nicht repräsentative Umfrage bei jungen Richtern und Staatsanwälten hier in Hessen hat Antworten ergeben, die nicht nur belustigen können.
So teilten die angenommenen Bewerber mit, dass ihnen in Anwesenheit der Frauenbeauftragten ein oder zwei Fragen zu ihrer sozialen Kompetenz gestellt wurden. Ausreichend waren offensichtlich Antworten wie:
»ich bin seit Jahren bei der Feuerwehr«,
»wir haben schon im Elternhaus jeden Abend unsere Probleme zusammen besprochen«,
»ich habe zwei einverständliche Scheidungen hinter mir«,

oder die Antwort auf die - sicher die soziale Kompetenz herausfordernden - Frage nach der Organisation eines Richterfestes durch die Frauenbeauftragte an einen Bewerber: »ich denke z.B. an ein Männerballett«.

Man mag schmunzeln über diese Art der Bewerbung und die Art der Überprüfung »sozialer Kompetenz«. Man mag gerne auch insgesamt in Frage stellen, ob ein derart unscharfer Begriff wie »soziale Kompetenz« in unserem Zusammenhang überhaupt zu etwas taugt. Die hier praktizierte Prüfung dieser Kompetenz aber, zwischen Feuerwehr und Herrenballet, ist offenkundig – genauso wie das »vertrauliche Verfahren« - völlig unangemessen im Hinblick auf die Bedeutung einer hohen eben auch sozialen Qualifikation von Richtern und Staatsanwälten.

Es gibt in anderen Bundesländern ausgefeiltere Methoden. So wird aus Hamburg berichtet, dass den Bewerbern jeweils drei bis vier verschiedene Gesprächspartner im Bewerbungsgespräch gegenüber sitzen, dass in Hamburg unter einem großen Teil der Prüfer im 2. Staatsexamen Einigkeit darüber besteht, dass man schon nach der zweiten Staatsprüfung geeignet erscheinende Bewerber auf eine Bewerbung anspricht; und insbesondere laufen die Bewerbungen und die Bewerbungsgespräche für Richter und Staatsanwälte getrennt.
In Berlin werden durch Prüfungsgruppen Bewerbern Fallkonstellationen bezüglich des Verhaltens von Angeklagten oder Zeugen vorgelegt, zu denen sie sich verhalten müssen, also ihre »soziale Kompetenz« darlegen können. Alle diese Unterlagen –auch etwa erfolglose Bewerbungen- werden dem Richterwahlausschuss vorgelegt.

Ich möchte an dieser Stelle noch einen Aspekt einfügen:
Die von uns allen immer wieder bemängelnde Nähe, ja auch Kumpanei, zwischen Richtern und Staatsanwälten hat seinen Hintergrund auch in der gemeinsamen Ausbildung, in gemeinsamen Bewerbungssituationen, gemeinsamen Fortbildungen etc. Es gibt keine Differenzierung in der Referendar-Zeit, es gibt wie in Hessen auch in anderen Bundesländern die identische Bewerbung für Richter und Staatsanwälte, in manchen Bundesländern ist ein Wechsel vom Richteramt zur Staatsanwaltschaft und umgekehrt nicht nur gern gesehen, sondern vorgeschrieben. In der Probezeit sind die gleichen Pflichtveranstaltungen zu belegen, nach der Ernennung sind entsprechende Tagungen bei Richterakademien jeweils offen für Staatsanwälte und Richter.
Schünemann hat darauf hingewiesen, dass es sich in Deutschland um eine international fast einmalige Verschmelzung der Richter- und Staatsanwaltskarriere handelt und ebenso eine zumindest partielle Entflechtung gefordert, um den oft beobachteten Schulterschlusseffekt zumindest abzumildern|38 , Sommer hat eine vollständige Unterbindung entsprechender Laufbahnwechseln gefordert.|39 Das ist sicherlich ein Punkt, an dem die Strafverteidigervereinigungen dringend aktiv werden sollten, gemeinsam mit all jenen, die für eine demokratische und transparente Selbstverwaltung der Justiz eintreten.

3. Ein unmöglicher Zustand der Strafverteidigung durch Zurechtweisung durch den BGH

Ich spreche von häufig wiederholten Argumentationsmustern der Damen und Herren beheimatet im Witwensitz der Großherzogin Sophie in der Karlsruher Herrenstraße und in der Villa des Landmaschinenherstellers Sack in Leipzig – und beginne mit folgendem Szenario:
Am Ende einer Revisionsschrift führen Sie Folgendes aus: Die Möglichkeit der Strafjustiz muss auf Dauer an ihre Grenzen stoßen, wenn Gerichte, wie die Verteidigung zunehmend beobachtet, zwar formal korrekt, die äußersten Möglichkeiten der Strafprozessordnung in einer Weise nutzt, die mit ihren Aufgaben nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind, in dem Beweisanträge nur noch im Hinblick auf eine Revisionsentscheidung beschieden werden und es den Gerichten vorrangig um einen Verfahrensabschluss in angemessener Zeit geht. Der Verteidigung drängt sich der Eindruck auf, dass damit sich das Gericht dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren, nicht mehr verpflichtet fühlt.

Wir können uns leicht ausrechnen, welch ein Aufschrei der Empörung erfolgen würde, Strafanträge und Ehrengerichtsverfahren inklusive.
Die Formulierung in meinem Szenario dürfte Ihnen bekannt vorkommen, sie ist satzbausteinartig aus verschiedenen Entscheidungen der fünf Strafsenate des BGH seit 2005 zusammengesetzt.
Dies war bereits Thema auf dem 34. Strafverteidigertag in Hamburg 2010 - und löste seinerzeit eine Kontroverse aus. Der Vorsitzende des 2. Strafsenats antwortete seinerzeit im Strafverteidiger auf die Ausführungen des Kollegen Tim Burkert, es handele sich um eine falsche Interpretation und einer Verdrehung der Aussagen des BGH, um ein »gemütlich(es) Vorurteil (zu) pflegen«.|40 Bis dahin waren wir es übrigens gewohnt, dass Kritik an der Rechtsprechung des BGH an den Senaten einfach so abperlt, wie an einer gut gewachsten Persenning. Fischer antwortete - und er fügte hinzu, auch die Senate des BGH seien »gelegentlich dem Reiz der Dramatisierung erlegen«.|41 Ist die Angelegenheit damit nicht eigentlich erledigt?

Aus drei Gründen komme ich erneut darauf zurück:
Zunächst zur Erinnerung:
In unterschiedlicher Häufigkeit, I. Senat – 15 Entscheidungen, III. Senat  - 10 Entscheidungen, V. Senat – 5 Entscheidungen,  II. Senat – 5 Entscheidungen, IV. Senat – 2 Entscheidungen haben sich die Senate des BGH seit 2005 in über 30 Entscheidungen mehr oder weniger deutlich mit Verteidigungshandlungen beschäftigt und deutliche Worte gefunden,
»das Prozessverhalten des Verteidigers in seiner Gesamtheit (...) als rechtsmissbräuchlich zu bewerten« (5 StR, 129/05). Es liege eine »Änderung des anwaltlichen Ethos« vor (GSSt 1/06);
»widersprüchliches Verhalten verdien[e] keinen Rechtsschutz« (5 StR 357/07);
»[d]ie Nutzung des durch die StPO gewährleisteten Verfahrensrechts in einer solchen Weise ist mit der Wahrnehmung der Aufgabe der Verteidigung … nicht mehr zu erklären« (1 StR 104/08); »Die zahlreichen Ablehnungsanträge der Verteidigung belegen die Absicht der Prozessverschleppung«. (2 StR 333/08)

Es blieb aber nicht bei diesen Beschwerden durch die Strafsenate des BGH, sondern es folgten die folgenden Weiterungen:
»Mit einer engagierten, ggf. auch mutigen Strafverteidigung im wohlverstandenen Interesse des Beschuldigten hat ein solches Verhalten kaum mehr etwas zu tun. Es führt, wenn es gehäuft oder systematisch auftritt oder gar als Reaktion auf die Ablehnung von Vereinbarungen angedroht oder zu deren Erzwingung durchgeführt wird, zu einer schwerwiegenden Belastung des Strafprozesses insgesamt, zu Forderungen rechtspolitischer Gegenmaßnahmen und zu einer Veränderung einer Prozesskultur, welche den Interessen der Beschuldigten nicht nützt, sondern entgegenwirkt.« (2 StR 545/08)

Die Aufgabe der Verteidigung wird – in einer anderen Entscheidung - so beschrieben:
»Der Auftrag der Verteidigung liegt – bei allem anerkennenswerten Engagement für den Mandanten – nicht ausschließlich im Interesse eines Angeklagten, sondern auch in einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege« (1 StR 544/09).

Der Gesetzgeber wird – wiederum in einer anderen Entscheidung - ins Spiel gebracht, mit der Aufforderung, Abhilfe zu schaffen:
»Ein solches Verhalten muss auf Dauer zur Erschöpfung der Ressourcen der Strafjustiz führen, wenn diese selbst in einfach gelagerten Sachen mehrere Hauptverhandlungstage aufwenden muss, um Anträge der Verteidigung zu verbescheiden, … bei einer weiteren Zunahme dieses nach Beobachtung des Senats immer mehr um sich greifenden Phänomens wird sich letztlich auch der Gesetzgeber zum Einschreiten veranlasst sehen müssen« (3 StR 238/07).

Ein Fallbeispiel habe ich mit Unterstützung des Kollegen Brüntrup aus Minden angeschaut, um den Hintergrund der BGH-Ausführungen zu ergründen:
Der 3. Senat bezieht sich im Rahmen eines Beschlusses nach § 349 II StPO unter Anderem auf Ausführungen des Landgerichts Oldenburg, das festgestellt hatte, dass der Verteidiger –die Befragung der Opferzeugin »über mehrere Hauptverhandlungstage hinweg« vorgenommen habe, obwohl es sich um einen »nicht komplexen Sachverhalt mit einfacher Beweiswürdigung« gehandelt habe. Weiter heißt es sodann in den Ausführungen des Senates, dass die Strafjustiz angesichts dieses Verteidigungsverhaltens »auf Dauer an ihre Grenzen« stoße, »wenn Verteidigung zwar formal korrekt im Rahmen des Standesrechts geführt werde, sich aber dem traditionellen Ziel des Strafprozesses (…) nicht mehr verpflichtet« fühle.

Die Auswertung der tatsächlichen Gegebenheiten zusammen mit dem Kollegen Brüntrup ergab, dass die Vorwürfe des BGH völlig haltlos sind, dass es sich gerade nicht um einen »einfach gelagerten Sachverhalt mit einfacher Beweiswürdigung« gehandelt hat:

Auch der Vorwurf, die Verteidigung habe die Zeugin »über mehrere Verhandlungstage hinweg« befragt, ist irreführend. Der Verteidiger hat die Zeugin zwar an drei (von 18) Hauptverhandlungstagen befragt. Insgesamt hat die Befragung durch die Verteidigung jedoch nur wenige Stunden gedauert.
Der Kollege Brüntrup hat daher nur das Selbstverständliche getan: mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für die Freiheit seines Mandanten gekämpft.

Dass er dabei wegen einer Ausführung in der Revisionsgegenerklärung, der Generalbundesanwalt habe in der Revisionsgegenerklärung Textbausteine verwandt,  auch noch mit einem Ehrengerichtsverfahren überzogen wurde, welches eingestellt wurde, ist ein weiteres unrühmliches Kapitel in der Bevormundung von Verteidigern.

Ich darf doch mal darauf hinweisen: Gem. § 135 GVG sind die Strafsenate des BGH zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision. Ich finde in keinem Gesetz einen Hinweis darauf, dass die Strafsenate des BGH in ihren Urteilen und Beschlüssen Arbeit und Auftreten der Verteidigung zu beurteilen haben und schon gar nicht daraus folgend Gesetzesinitiativen anzuregen.
Aber: Ich muss auch feststellen, dass der BGH mit der gerügten Praxis aufgehört hat, wahrlich ein Grund sich damit noch einmal zu befassen, vielleicht den Schluss zu ziehen, unsere Kritik war nicht nur berechtigt, sondern auch erfolgreich.
Der dritte und letzte Grund ist die Tatsache, dass die Mahnungen und Anregungen der Strafsenate des BGH anderswo dennoch Gehör finden. Dies führt mich zu einem weiteren Aspekt der langen Reihe unmöglicher Zustände.

4. Der unmögliche Zustand der Strafverteidigung aufgrund äußerer Beeinflussung

Der Einfluss von Medien und Öffentlichkeit auf das Strafverfahren hat uns bereits öfter auf Strafverteidigertagen beschäftigt. Z.B. 2001 in Berlin, 2006 hier in Frankfurt, 2011 wieder in Berlin, zuletzt in Dresden 2014. Die aktuelle Berichterstattung rund um die Vorkommnisse vor dem Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht gibt genügend Anlass sich wieder damit zu beschäftigen.

Hier will ich mich auf zwei Beispiele beschränken, die nichts mit der jüngsten Hysterie um die sog. »kriminellen Ausländer« zu tun haben, sondern die in ihrer klar gegen die Strafverteidigung zielenden Stoßrichtung eher in einem inhaltlichen Kontext zu den Zurechtweisungen durch den BGH stehen.

Leider spielt das erste Beispiel ausgerechnet hier in Frankfurt und gemeint ist nicht die gerne gescholtene Springer-Presse, sondern die einst deutlich links-liberale Frankfurter Rundschau, die in der Vergangenheit über eine ausgewiesen sachkundige Gerichtsberichtserstattung verfügte. Dies ist seit Jahren bereits nicht mehr der Fall, wobei ich nicht die stets unkorrekte Bezeichnung von Gerichtsinstanzen oder Rechtsmitteln meine, sondern den Jargon, in dem Beschuldigtenrechte und Verteidigerverhalten abgekanzelt wird.

Im Juni 2015 werden in einer Kolumne Prozessanträge stellende Anwälte wie folgt beschrieben:
»Es gibt Anwaltskundler, die halten es für eine Art Balzverhalten: Mit einer möglichst großen Anzahl bescheuerter Anträge signalisiere der Anwalt dem Weibchen, dass er paarungsbereit und in Besitz des 2. juristischen Staatsexamens ist«
»Der liebe Gott ist sicher nicht an der Erfindung des Anwalts beteiligt gewesen, eher die Gegenseite. Die Antragswut hat für den Mandanten keine segenspendende Nebenwirkung, eher im Gegenteil.«|42 .

In einem Leserbrief darauf reagiert hat dann im Übrigen eine Bremer Richterin, die das Recht der Verteidigung betonte, »für die Durchsetzung abweichender Ansichten zu kämpfen«. Nur so könne sich das Recht »weiter entwickeln«.

Nicht weiterentwickelt hat sich indessen der Redakteur, der nicht müde wird Erkenntnisse wie folgende über uns Strafverteidiger zu verbreiten 'Der größte Freund der Gerechtigkeit sei der schlechte Anwalt, denn der gute Anwalt schaffe es immer mal wieder einen Schurken vor dem Zuchthaus zu bewahren. Der schlechte Anwalt verhelfe der Gerechtigkeit zum Sieg. Denunziert wird dann ein Kollege, dem er vorwirft, durch sein Verhalten dem Gericht erst zu ermöglichen, Mordmerkmale nachzuweisen und zu einem »lebenslänglich« zu kommen.|43

Ich nehme an, dass viele von Ihnen ähnliche Beispiele aus anderen Blättern kennen. Die Vereinigung Hessischer Strafverteidiger hat sich an die Frankfurter Rundschau gewandt, wir erhielten Ende Januar auch eine Antwort des Chefredakteurs: man nehme unsere Kritik zur Kenntnis und werde mit den Kollegen darüber sprechen und weiter: „Natürlich schießen auch Zeitungsautoren im Eifer des Gefechts das eine oder andere Mal vielleicht übers selbstgesteckte Ziel hinaus“.
Wesentlich scheint mir aber, dass diese Beispiele für eine durchaus widersprüchliche Wahrnehmung der Verteidigung stehen, die einerseits als »Organ der Rechtspflege« dem Verfahren zu dienen habe, die man aber andererseits als juristisch verbrämten, prozessualen Arm des Verbrechens darstellt.
Dazu passt das noch gravierendere Beispiel eines ganzen Buches von Joachim Wagner unter dem alles wesentliche vorwegnehmenden Titel »Vorsicht Rechtsanwalt – ein Berufsstand zwischen Mammon und Moral«.

Ich muss und will ein paar Worte aus drei Gründen dazu finden.
1. handelt es sich bei dem Autoren um einem promovierten Juristen, dem als langjähriger Leiter des Fernsehmagazins ‚Panorama‘ eine gewisse Öffentlichkeitswirksamkeit zukommt.
2. ist dieses Buch im Beck-Verlag veröffentlicht, der für uns Juristen von besonderer Bedeutung ist und
3. weil einige Kollegen, die auch Mitglied in unseren Vereinigungen sind, dem Autoren Rede und Antwort gestanden haben und in diesem Buch zitiert werden.
Die Ergebnisse sind insbesondere in dem Kapitel »Risiko Strafverteidiger« mehr als bemerkenswert, so bemerkenswert, dass ich sie Ihnen nicht vorenthalten möchte.

Zunächst führt Wagner aus, dass
»das Jurastudium ... ein Sammelbecken der Mittelmäßigen (ist).«|44
Für die Anwaltschaft konstatiert er, bis zu zwei Dritteln aller Anwälte verfügten nur über ein ausreichendes zweites Examen, die Anwaltschaft sei ein
»Sammelbecken für schlechte Juristen.«|45
Aber jetzt zu uns:
»Der Pool von Pflichtverteidigern ist zugleich ein Sammelbecken von schlechten und mittelmäßigen Juristen, von Berufsanfängern, wenig engagierten und bequemen Verteidigern und vermehrt Anwälte(n) ohne Erfahrung als Strafverteidiger.«|46
»Die Werbekoffer der Anwälte enthalten vor allem sechs Instrumente: Kostenloser Rechtsrat, falsche Versprechungen, Schlechtreden von Kollegen, hohe Vorschüsse, Fangprämien und Kassiber!«|47
Und weiter:
»Ein von Gefangenen besonders geschätztes Werbeinstrument ist das Schmuggeln von Kassibern! Von Briefen in der Verteidigerpost, Drogen und Handy-SIM Karten!«|48
Und ganz im Stil des BGH:
»Es gibt eine starke Minderheit (der Strafverteidiger) mit einem erheblichen Werteverfall«|49
Selbstverständlich treffen alle diese Beschreibungen auf keinen der hier Anwesenden zu: Fischer hat es ja festgestellt: »Bei den Strafverteidiger-Tagungen ... sind die Guten, Fleißigen und Pflichtbewussten immer anwesend, die Schlechten, Faulen und Schwachen nie«|50 .
Sie, die Guten und Fleißigen, werden es längst bemerkt haben: Die Enthüllungen über den Berufsstand zwischen Mammon und Moral sind eine Aneinanderreihung von Plattheiten und Halbwahrheiten, die weitverbreitete Ressentiments gegen die Robenträger bedienen. Das ist verkaufsfördernd, apropos Mammon und Moral.
Da wird ernsthaft ausgeführt:
»Ein Robenträger rühmt sich, ungekrönter König eines Stockwerks der JVA Weiterstadt zu sein: ‚Mir gehört der siebte Stock!‘«|51
Das ist – wie jeder, der die JVA kennt – freilich ein eher bescheidenes Königreich, ähnlich wie der sechste, der fünfte und der vierte Stock. Weiterstadt hat nämlich nur drei Stockwerke!
Für den wortreich beklagten Werteverfall bei Strafverteidigern wird auch die sinkende Zahl von Untersuchungsgefangenen und Gefangenen bemüht, die einen gesteigerten Konkurrenzdruck hervorrufe.
»Zwischen 2000 und 2011 ist die Zahl der Untersuchungsgefangenen bundesweit um 82% gesunken«|52 .
Als Beleg für diese erstaunliche Zahl wird die Süddeutsche Zeitung vom 02.06.2012 angegeben. Ich gebe zu: Beim ersten Lesen dachte ich – Hurra! Wir sind fast am Ziel! Es fehlen nur noch 18 Prozent und es gibt keine U-Häftlinge mehr. Aber leider verhält es sich hier ähnlich, wie mit dem Luftkönig vom siebten Stock. Die Zahl ist völlig falsch. Und in der besagten Ausgabe der Süddeutschen stand nur der Satz, dass es im Jahre 2011 etwa 10.000 U-Häftlinge gab, dies seien nur noch etwa halb so viel wie in den 90iger Jahren.
Solche Berichterstattung hat – zugegebenermaßen – oft unfreiwillig komische Züge. Aber täuschen wir uns nicht: Solche Klischees reden einer weitverbreiteten Rechtsstaatsskepsis nach dem Mund, der zufolge die Gerechtigkeit unter dem Recht und den »Rechtsverdrehern« leidet, die Gangster eh nicht bestraft werden und der »kleine Mann« am Ende immer der Dumme sei. Auch hier muss man nicht an die Reaktionen auf die Kölner Silvesternacht erinnern, um zu erahnen, wie gefährlich solches Spiel ist. Der Autor aber vertritt seine Thesen weiter von Ort zu Ort auf vielen Veranstaltungen. 1987 wurde er übrigens mit dem Journalistenpreis des Deutschen Anwaltsvereins ausgezeichnet.
Auch hier haben wir uns von der Hessischen Vereinigung an Verlag und Autor gewandt, hier steht eine Antwort noch aus.

5. Der unmögliche Zustand der Strafverteidigung aufgrund finanzieller und organisatorischer Probleme

Um zu erklären, was damit gemeint ist, will ich Sie kurz auf eine kleine Reise durch die Bundesrepublik mitnehmen:
Hat man das Vergnügen, einen Beschuldigten vor dem Haftrichter des Amtsgerichts Stuttgart zu vertreten, fällt einem als erstes auf, dass in jedem Haftrichterzimmer am Schreibtisch eine Handfessel angebracht ist – und zwar nicht auf der Seite des Richters.
Tatsächlich wird der Mandant dann von zwei Beamten vorgeführt und darf noch entscheiden, ob er lieber mit seiner linken oder rechten Hand angeschlossen werden will, eine Praxis, wie ich erfuhr, die seit Jahren, ja Jahrzehnten besteht.
Etwas weiter südlich, in Ulm, muss man sich an den Gedanken gewöhnen, dass jeder Angeklagte in Fußfesseln vorgeführt wird, die auch während laufender Verhandlung nicht abgenommen werden.
Und schließlich noch etwas weiter südlich, in Traunstein, werden die Beschuldigten sogar mit einem sog. Vorführgürtel, wahlweise mit Kette durch die Armbeuge oder Beine zusätzlich vorgeführt.
Da ist man froh, dass danach die Grenze kommt und es nicht noch weiter südlich geht.
Klar ist, hier steht der einzelne Verteidiger und der einzelne Beschuldigte oder Angeklagte oft auf verlorenem Posten. Oft will der Beschuldigte oder Angeklagte nicht, dass der Verteidiger sich weigert, unter diesen Bedingungen aufzutreten. Hier sind wir als Vereinigungen gefordert und selbstverständlich sind nicht nur Eingaben bei den Präsidien der Amts- und Landgerichte erforderlich, sondern auch Schritte im politischen Bereich notwendig.
In Dessau führt ein Justizwachtmeister Angeklagte in den Schwurgerichtssaal und trägt eine Tätowierung auf dem Unterarm mit einem Galgen, an dem eine Leiche hängt, zur Schau. Auf Intervention war ließ Vorsitzende Richterin diesen Justizwachtmeister für die Dauer der Hauptverhandlung geräuschlos abziehen, mittlerweile macht er aber wieder Dienst, wie berichtet wurde.
Ich habe auch nichts gegen Solidarität mit aus politischen oder religiösen Gründen Verfolgten, aber dass man im Schwurgerichtssaal in Paderborn seit 1953 unverändert den Vorsitzenden nur erkennen kann, wenn man den Kopf verrenkt, um an einem mannshohen gusseisernen Christus, der fest im Saal verankert ist vorbeizuschauen, ist nicht nur für Nichtchristen ein ärgerlicher Zustand.
Ich berichte dies, weil ich mich wundere, dass auf meine entsprechende Beschwerden mir immer entgegnet wird, man verstehe dies nicht, man praktiziere dies ohne Einwände seit Jahren oder Jahrzehnten.
Fritz Bauer wird in Alexander Kluges Film »Abschied von Gestern« von 1965 mit der Frage zitiert: »Sagen Sie mal, können Sie sich denken, dass wir eines Tages mal einen round table machen, wo der Staatsanwalt und der Verteidiger und der Angeklagte und das Gericht um den Tisch herumsitzen und gemeinschaftlich um die Wahrheit kämpfen, und um das, was wir Recht nennen?«. Wir sind heute – über 50 Jahre später – noch unendlich weit davon entfernt. Tatsächlich muss man manchmal mit Nachdruck durchsetzen, dass man überhaupt neben seinem Mandanten sitzen darf. Etwas was wir schon 1977 in Vorbereitung des 2. Strafverteidigertages fordern mussten|53 .
Dankbare Aufgaben für die nächsten Jahre der Strafverteidigervereinigungen.
Waren dies Äußerlichkeiten, so komme ich jetzt auf Beispiele anderer, nicht nur organisatorischer Art zu sprechen:
Nach § 74 GVG sind die Strafkammern beim Landgericht zuständig für alle Straftaten, bei denen eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten ist oder wenn gem. § 74 Abs. 1 Nr. 3 GVG der besondere Umfang oder die besondere Bedeutung des Falles dies erfordert.
Seit Jahrzehnten werden in Frankfurt, bedingt durch den Flughafen, jährlich dutzende und mehr Verfahren gegen Personen geführt, die Drogen (bis zu einem Kilo) verschluckt haben und am Flughafen aufgegriffen werden. Die Fälle sind juristisch völlig unkompliziert, die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage mit Textbausteinen auf anderthalb Seiten. Wenn überhaupt wird in der Hauptverhandlung ein einziger Zollbeamter gehört, das Rauschgiftgutachten verlesen und die Beweggründe für den Rauschgifttransport des Angeklagten erörtert. Üblicherweise setzen versierte Vorsitzende ungefähr zwei Stunden Hauptverhandlungsdauer an.
In den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, endete kein einziges Verfahren mit einer Freiheitsstrafe über vier Jahren, der übliche Strafrahmen liegt zwischen 2,6 und 3,6 Jahren.
Die Antwort auf die Frage, warum trotz dieser klaren Fakten gem. § 24 GVG nicht vor dem Amtsgericht, sondern vor dem Landgericht angeklagt wird, wird von der Staatsanwaltschaft Frankfurt so verblüffend wie ehrlich damit beantwortet, es gebe seit Jahren eine Absprache zwischen den Landgerichtsvorsitzenden und der Staatsanwaltschaft, vor dem Landgericht anzuklagen. Die dortigen Vorsitzenden seien dankbar für kurze, einfache Eintages-Verhandlungen. Der damit verbundene Verlust einer Instanz für die Angeklagten stellt für die Staatsanwaltschaft genau so wenig ein Problem dar, wie die offensichtliche rechtswidrige Kumpanei zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft.
Durchaus ein unmöglicher Zustand!
Ein weiterer unmöglicher Zustand stellt die Vereitelung einer unverzüglichen Vorführung gem. § 128 Abs. 1 StPO dar. Meine Nachfragen bei den Haftrichterabteilungen in Städten (Frankfurt, Wiesbaden), genauso wie auch dem Land (Groß-Gerau) ergab ungefähr das gleiche Bild: Über 50 Prozent der richterlichen Vorführungen finden nicht wie gesetzlich gefordert unverzüglich, sondern erst am Tag nach der Festnahme statt. Bei den tatsächlichen unverzüglichen Vorführungen handelt es sich zumeist um die einfach gelagerten Fälle wie Diebstahl oder Diebstahlversuche, auf frischer Tat ertappte vorzugsweise ausländische Beschuldigte, wobei die Festnahme und Inhaftierung dieser Beschuldigten einen ganz anderen unmöglichen Aspekt darstellt.
Wir wissen alle, in welchen Situationen Beschuldigten evtl. falschen Versprechungen folgend, Angaben machen. Ich kenne zwar keine entsprechende Untersuchung, eine solche wäre sicher lohnend, bin aber überzeugt, dass ein Großteil von Einlassungen angesichts der Konfrontation mit der Tatsache, man werde erst am nächsten Tag einem Haftrichter vorgeführt, erfolgen.
Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar und einsehbar, dass die Justizverwaltungen ihren gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen und es akzeptieren, dass Vorführungen seitens der Polizei mit dem Hinweis, nach 16:00 Uhr sei ein Haftrichter nicht mehr erreichbar, vereitelt werden.
Das OLG Zweibrücken hat 2010  (1 Ss Bs 6/10) entschieden, dass ein richterlicher Bereitschaftsdienst nur dann auch zur Nachtzeit vorhanden sein müsse, wenn hierfür praktischer Bedarf besteht, der über den Ausnahmefall hinausgehe. Bei den dargestellten Zahlen besteht massiver praktischer Bedarf, täglich.
Und dann kam Pebb§y in mein Berufsleben!
In einer Diskussion mit einem bzw. einer Schwurgerichtsvorsitzenden (um eine Identifizierung zu vermeiden, lasse ich dies offen) im Hinblick auf nicht nachvollziehbare Eröffnungen vor der Schwurgerichtskammer trotz eindeutigem Rücktritt (der später auch im Urteil angenommen wurde) bzw. einem klaren Fehlen eines Tötungsvorsatzes (was später sich auch so im Urteil fand) – wurde mir folgende Rechnung aufgemacht:
Nach Pebb§y soll eine Landgerichtskammer i.d.R. ca. 100.000 Pebb§y-Punkte jährlich abarbeiten.
Für eine »normale« Strafsache werden 7.000 Pebb§y-Punkte gutgeschrieben, für eine Schwurgerichtssache 14.000 Pebb§y-Punkte. Käme noch eine Nebenklage mit einem Adhäsionsverfahren hinzu, könnten weitere 7.000 Pebb§y-Punkte addiert werden, sodass man mit fünf Schwurgerichtsanklagen mit Nebenklagen und Adhäsion die 100.000 Pebb§y-Punkte jährlich locker erfüllen und so der Gefahr entgehen könnte, durch Präsidiumsbeschluss eine weitere unliebsame Zuständigkeit zu erhalten. Außerdem käme es der Verteidigung ja aufgrund der erhöhten Gebühren auch zugute.
Ganz abgesehen von der Bedeutung dieser Vorgehensweise für die Beschuldigten durch den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO und der immer wieder geäußerten Vermutung – für die viel spricht – dass Schwurgerichte für Körperverletzungsdelikte höhere Urteile als normale Strafkammern ausurteilen, können Sie sicher verstehen, dass ich hierin nicht nur einen unmöglichen Zustand sondern mehr noch einen Anfangsverdacht auf § 339 StGB erkenne.

Und schließlich der Punkt der Beiordnungspraxis:
»Der Fluch der Guten Tat«
Jahrzehnte lang von uns gefordert, seit über sechs Jahren Gesetz – die verpflichtende Beiordnung eines Verteidigers nach Beginn der Vollstreckung von Untersuchungshaft ist inhaltlich richtig, die Ausgestaltung falsch.

Ich will mich nur auf einen Punkt beschränken: Die Fälle, in denen ein Beschuldigter keinen eigenen Vorschlag für die Bestellung eines Pflichtverteidigers machen kann oder will und den Richter ermächtigt, für ihn einen Pflichtverteidiger auszusuchen. Dies kommt öfter vor, als man denkt. Nach Rücksprache mit den Ermittlungsrichtern in Frankfurt kommt diese Konstellation im Schnitt zweimal am Tag vor. In Städten mit weniger Anwaltsdichte noch öfter (Wiesbaden: 50 Prozent der Vorgeführten), in ländlichen Gebieten z.T. noch mehr (Friedberg über 50%, Groß-Gerau: über 50 – 70% der Vorgeführten).. In sechs Jahren des Bestehens also ca. 2.200 Fälle nur in Frankfurt, nur durch die Ermittlungsrichter. Auch in Frankfurt behaupten selbstverständlich die angesprochenen Richter, sie würden sich einmal an einer gemeinsamen Liste von Anwaltsverein und Strafverteidigervereinigung orientieren, die ca. 125 Namen führt, andererseits je nach Fall aber auch auf besondere Qualifikationen achten.

Ich muss mich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass ich über keine besondere Qualifikation verfüge – oder nicht oft genug im Männerballett mitgetanzt habe -, weil ich, obwohl ich auf der Liste stehe, in sechs Jahren insgesamt zwei Mal beigeordnet wurde, jeweils von dem gleichen Haftrichter interessanterweise, immer nach einem Gespräch, welches ich in meiner Funktion als Vorsitzender der Hessischen Strafverteidiger mit diesem Ermittlungsrichter über die Bestellungspraxis führte.

Mehrfache Versuche hier in Hessen, die Kriterien der Bestellung zu hinterfragen, werden jeweils mit dem Hinweis auf die richterliche Unabhängigkeit zurückgewiesen. Aber natürlich ist es hier in Frankfurt genau wie in anderen Städten: Es gibt »Kungelrunden« und natürlich gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, die ständig beigeordnet werden. Damit einher geht sicher die »Konterkarierung des mit dem U-Haft-Änderungsgesetz verfolgten Regelungsziel der Stärkung der Verteidigungsrechte im Vorverfahren«.|54

In Berlin wurde der Versuch gemacht, über eine parlamentarische Anfrage die Beiordnungspraxis zu evaluieren. In einem Antrag vom 21.08.13 wurde der Senat aufgefordert, u.a. eine Liste der im Vorhalbjahr berufenen Pflichtverteidiger aufgeschlüsselt nach den einzelnen Kammern und Verfahren der Berliner Gerichte »ins Auge zu fassen«|55 . Die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz hat in ihrer Mitteilung vom 11.4.2014 dem Abgeordnetenhaus mitgeteilt, dass der Kernbereich richterlicher Tätigkeit keiner Dienstaufsicht unterliegt, dazu gehöre auch die Bestellung von Pflichtverteidigern.

Aber »der (Bundes-)Gesetzgeber kann also Regelungen zur Aufnahme in Vorauswahllisten treffen, bei der Auswahl bestimmte Kriterien oder auch eine Auswahl nach dem Reihenfolge-oder Zufallsprinzip vorsehen und so die Auswahl letztlich sogar der Bestimmungsgewalt des Richters entziehen«.|56 Nachdem der Datenschutzbeauftragte vehement Einspruch gegen die Erstellung von Listen in der Vergangenheit bestellter Pflichtverteidiger – auch in anonymisierter Form – eingelegt hatte, ist im April 2015 die weitere Bearbeitung dieser Sachverhalte einvernehmlich vertagt worden|57 .

Hier helfen offensichtlich keine parlamentarischen Anfragen, keine Nachfragen bei den Justizverwaltungen, hier kann nur anders Abhilfe geschaffen werden:

Man muss den Ermittlungsrichtern bei ihrer schweren Aufgabe der Auswahl des Pflichtverteidigers helfen, man muss ihnen diese Aufgabe abnehmen und einem Gremium – angesiedelt etwa bei den Rechtsanwaltskammern - zuordnen. Auch ein solches Verfahren schließt selbstverständlich in Einzelfällen die Bevorzugung des einen oder anderen Kollegen nicht aus, aber die Kriterien der Auswahl sind nicht nur vorher durch alle beiordnungswilligen Kollegen selbst festlegbar, sondern hier auch überprüfbar, wobei ich nicht einer Auswahl streng nach Listen, sondern Qualifikationsmerkmalen das Wort rede, wobei aber ausdrücklich auch junge Kollegen Berücksichtigung finden müssen. Dies kann in den ersten Fällen der Beiordnung durchaus in einem Art Tandem-Prinzip erfolgen, genau wie wir dies in Frankfurt bei der Auswahl der Kolleginnen und Kollegen praktizieren, die sich erstmals für den anwaltlichen Notdienst in Strafsachen zur Verfügung stellen.
Wir können daher feststellen, dass es auf den verschiedensten Ebenen Zustände gibt, die nicht nur unser Interesse sondern die aktive Beschäftigung damit erfordern, nicht nur auf den alljährlichen Strafverteidigertagen.

Teil II:Perspektiven unserer Arbeit als Strafverteidiger und in den Vereinigungen

Für unsere Arbeit in und für die Strafverteidigervereinigungen kommt es für mich entscheidend darauf an, klare und unverwechselbare Positionen einzunehmen und offensiv zu vertreten. Ich möchte dies an drei Beispielen exemplarisch aufzeigen. Drei Beispiele, in denen wir in den letzten Jahren und aktuell Positionen bezogen haben, Positionen, die aber z.T. intern, im Hinblick auf die Wege zu ihrer Verwirklichung umstritten waren.
1. Geldwäsche
Auf dem 24. Strafverteidigertag im Jahre 2000 in Würzburg hatten wir als Ergebnis einer Arbeitsgruppe festgestellt, dass § 261 StGB eklatant tragende Grundsätze unseres Rechts gefährdet. Das Recht jeder beschuldigten Person auf den Beistand eines Verteidigers werde gefährdet, wenn der Verteidiger mit einem Ermittlungsverfahren bedroht ist, u. U. überwacht oder abgehört wird, sodass er seine verfassungsrechtlich verbürgten Aufgaben nicht mehr ausreichend wahrnehmen kann.
Gleichwohl wurden Stimmen auch innerhalb unserer Organisation laut, die zu bedenken gaben, dass die Forderung Strafverteidiger aus dem Anwendungsbereich des § 261 gänzlich herauszunehmen nicht durchsetzbar seien, dem zu folge wurden Rechtfertigungslösungen|58 oder Vorsatzlösungen|59 angeboten. Spätestens nach den Anhörung vor dem BVerfG und den dort gestellten Fragen insbesondere des damaligen Vorsitzenden Hassemer wurde klar, dass man ohne Not von der klaren Position, Strafverteidiger aus dem Anwendungsbereich des § 261 herauszunehmen, abgewichen war.
Das Urteil des BVerfG vom 30.03.2004 wurde zwar z.T. als »juristischer Paukenschlag«|60 bezeichnet, der die Strafverteidigung als rechtsstaatliche Institution stärke.
Der Kollege König wird bei Wagner »Vorsicht Rechtsanwalt« mit dem Satz zitiert, dass es für Strafverteidiger erst gefährlich werde, wenn der Mandant das Geld »mit rauchendem Colt übergibt und aus einer Tasche voll mit Euro-Scheinen nimmt«!|61 .
Ich sehe dies anders.
Im gleichen Aufsatz wird der Kollege König damit zitiert, er akzeptiere keine Barzahlungen von Familien von Drogendealern. Er mag sich das leisten können. Das Problem ist doch vielmehr, dass auch nach den Einschränkungen des BVerfG-Urteils eine Strafbarkeit wegen Geldwäsche durch die Annahme eines Honorars in sicherer Kenntnis von dessen Herkunft aus einer Katalogtat besteht. Dies führt des Öfteren dazu, dass Kollegen sich von Familienmitgliedern ihrer Mandanten unterschreiben lassen, das übergebene Geld stamme aus einer Erbschaft, aus einer Schenkung der Oma, etc. – dies ist nicht nur unwürdig, sondern birgt auch massives Erpressungspotential zu Lasten der Strafverteidiger.
Das Abweichen von der klaren Grundposition, das Mitwirken an einschränkenden Lösungsmöglichkeiten war daher nur sehr bedingt erfolgreich.

Mein zweites Beispiel ist unsere Position zur Sicherungsverwahrung.
2. Sicherungsverwahrung
Eingeführt im Nationalsozialismus um im Gegensatz zu dem angeblich liberalistischen Rechtsdenken der Weimarer Zeit auf Menschen einzuwirken, ohne Rücksicht auf eine Schuld lediglich im Interesse der Gemeinschaft, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus mehr als 15.000 Menschen in der Sicherungsverwahrung untergebracht. Nach dem Krieg spielte sie nur eine untergeordnete Rolle, trotzdem war immer die klare Position der liberalen/linken Strafrechtler für die Abschaffung dieser Vorschrift.
Ausgestaltet als Maßregel haben wir immer darauf hingewiesen, dass die Sicherungsverwahrung tatsächlich nur als Strafe klassifiziert werden kann|62 .
Angesichts der massiven Ausweitung der Sicherungsverwahrung, angesichts der Zumutungen von nachträglicher und vorbehaltener Sicherungsverwahrung, dem Herunterschrauben der Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung erinnere ich viele Diskussionen, in denen gewarnt wurde vor der Forderung nach der gänzlichen Abschaffung der Sicherungsverwahrung, um Gehör zu finden für Argumente gegen vorgesehene Ausweitungen. Der EGMR hat dann unsere Position insoweit bestätigt, als er die Sicherungsverwahrung aufgrund ihrer tatsächlichen Ausgestaltung in Deutschland als Strafe bezeichnete und damit auch den bis dahin geltenden Vorgaben des BVerfG, (auch unter Hassemer!) widersprochen.
In einer Presseerklärung zum 36. Strafverteidigertag in Hannover 2012 haben wir dennoch die Abschaffung der Sicherungsverwahrung gefordert, aber auch damit begründet, dass alle Versuche, die Sicherungsverwahrung zu reformieren, gescheitert seien.
Wir dürfen aber dieses ursprüngliche Ziel, die Abschaffung der Sicherheitsverwahrung, nicht aus den Augen verlieren, gerade weil wir feststellen müssen, dass wie selbstverständlich an der Sicherungsverwahrung festgehalten und i. d. R. durch Etikettenschwindel versucht wird, den Vorgaben des EGMR gerecht zu werden. Die steigenden Zahlen der Sicherungsverwahrten muss Anlass für die Strafverteidigervereinigungen sein, immer wieder mit einer klaren Position die Abschaffung der Sicherungsverwahrung zu fordern, insbesondere auch angesichts der aktuellen Rechtslage in Gestalt der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung.

3. Aktuelle Diskussion um die Veränderung der Vorschriften des §211 und §212 und die
Forderung nach Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe.

Seit ihrem Bestehen streiten die Strafverteidigervereinigungen für die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Auch hier gab es Verbündete. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten vor vielen Jahren bereits Gesetzentwürfe zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe vorgelegt. Seit 1998 mit seiner Partei in der Regierung kündigte unser Kollege Jerzy Montag im Eröffnungsvortrag des 24. Strafverteidigertages 2000 in Würzburg eine Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems an, »Erfolg und Misserfolg des rot/grünen Regierungsprojekts« hingen auch von der Einlösung der rechts- und justizpolitischen Versprechen ab, denn Ursachen von Kriminalität ließen sich nun nicht durch harte Strafen bekämpfen. Die ursprünglichen Gesetzentwürfe blieben in der Schublade. Die Prognose, die von Arno Plack auf dem 3. Strafverteidigertag 1979 in Berlin geäußert wurde, man könne ein stufenweises Ausscheiden der jeweils schwersten Form der Strafe beobachten hat sich genauso wenig erfüllt, wie die Vorstellung Rudolf von Ihirings, wonach die Geschichte des Strafrechts nichts anderes sei als die Geschichte seiner Abschaffung.

Begonnen hatte die aktuelle Diskussion über die Reformierung der Vorschriften der Tötungsdelikte insbesondere anhand des Mordmerkmals der »niedrigen Beweggründe«. Es handele sich um »das erbärmlichste, unglaubwürdigste, dehnbarste aller Mordmerkmale, frisch geblieben über 70 Jahre«, schrieb Thomas Fischer.|63 Angesichts dieser deutlichen Worte verwundert es, wenn man sich die Revisionsrechtsprechung des BGH zum Mordmerkmal niedriger Beweggründe anschaut. In 25 Urteilen aus den Jahren 2012 bis 2015, die ich mir angeschaut habe, beschäftigte sich der BGH mit dem Mordmerkmal niedriger Beweggründe. Nur in fünf Urteilen wurde dieses Mordmerkmal abgelehnt, ansonsten entweder bestätigt oder aber es erfolgte bei erfolgreichen Revisionen der Staatsanwaltschaft der Hinweis, dass dieses »erbärmlichste, unglaubwürdigste« Mordmerkmal niedrige Beweggründe angenommen werden müsse. Hier macht auch der 2. Strafsenat keine Ausnahme|64 , sodass man sich schon fragen darf, ob bei der gesamten Diskussion eine Chance vertan wurde, wie Pollähne ausführt|65 oder aber ob nie eine reale Chance auf tatsächliche Veränderungen bestand, weil dieselben Strafvorstellungen nur unter anderem Gewand weiter gelten werden und die Reform auf eine kosmetische Aufhübschung hinausläuft, dasselbe Elend, nur ohne NS-Terminologie.

Und wir erleben wieder eine Diskussion auch innerhalb der Anwaltschaft, ob und inwieweit man unsere grundsätzliche Forderung nach der Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe verfolgen soll, oder ob nicht z.B. zunächst im Vordergrund die Änderung des Mordparagraphen bzw. seiner Mordmerkmale stehen soll.
Der aktuelle Bundesminister der Justiz hat schon mit der Einsetzung der Kommission zur Neukonzipierung der Tötungsdelikte verlauten lassen, dass die lebenslange Freiheitsstrafe nicht zur Disposition stehe. Jetzt gibt es mit Professor Fischer einen mächtigen Fürsprecher der Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, die z.Z. etwa 2.000 Gefangene in Deutschland betrifft, deren durchschnittliche Vollstreckungsdauer bei ungefähr 19,5 Jahren liegt. Er weist auf die Rechtsprechung des BVerfG hin, wonach es ein Gebot der Menschenwürde ist, jedem Verurteilten die Chance zu geben, irgendwann in seinem Leben wieder in die Freiheit zu gelangen, beschreibt auch, dass der große Teil der Lebenslänglichen über der Grenze der Freiheitsstrafe ausschließlich aus präventiven Gesichtspunkten sitzen, nicht wegen ihrer Schuld. Mit Worten, die selbst einem hartgesottenen Strafverteidiger nicht ohne weiteres über die Lippen kommen, wird für die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe gestritten. Dies müsse geschehen, selbst wenn die Hilfssheriffs der Nation, die Bautzenanhänger und Fantasie-Henker noch so laut mit dem Pferdefuß im angeblichen Namen der Opfer klopfen würden.
Hier sind wir uns einig. Aber was folgt dann?

Man könne alternativ die zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe von derzeit 15 auf max. 20, 25 oder 30 Jahre erhöhen, schreibt er.|66 Bei 30 Jahren Höchstfreiheitsstrafe aber wäre eine Strafe von 20 Jahren durchaus noch moderat, im mittleren Rahmen liegend, wären mit 20 Jahren gerade mal Zweidrittel der höchsten zeitigen Freiheitsstrafe verbüßt. Es ist genau diese Diskussion vor der ich warne, für ein Ziel zu streiten, die lebenslange Freiheitsstrafe abzuschaffen, im Gegenzug aber die Erhöhung der zeitigen Freiheitsstrafe bis zu 30 Jahren anzubieten.

Liest man dann die Protokolle der Beratungen der Expertenkommission zur Reform der Tötungsdelikte und insbesondere zur lebenslangen Freiheitsstrafe, trifft man immer wieder auf erstaunliche Argumente:
Kröber meint, aus psychiatrischer Sicht sei es sinnvoller die lebenslange Freiheitsstrafe zu belassen, weil die Unklarheit über das Strafende die Mitarbeitsbereitschaft in der Vollstreckung fördere!|67 .
Die Stuttgarter Schwurgerichtsvorsitzende Rieker-Müller befürchtet ein Absinken der Haftverbüßungsdauer.|68
Und Ministerialrat Bösert vom BMJV warnt schließlich vor besseren Behandlungsangeboten an Lebenslängliche, weil dann der Unterschied zu den Sicherungsverwahrten nicht mehr existiere und die Gefahr bestehe, dass erneut der europäische Gerichtshof die SV als Strafe ansehe!|69

Kinzig hat in seinem Beitrag »Die Zukunft der lebenslangen Freiheitsstrafe« innerhalb der Expertenkommission die wichtigsten Argumente zusammengetragen. Hervorzuheben darin, dass das BVerfG bereits 1977 feststellte, dass nach dem damaligen Forschungsstand nicht festgestellt werden könne, dass der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe zwangsläufig zu irreparablen psychischen oder physischen Schäden führen müsse – obwohl schon vor 39 Jahren die quantitativ bei weitem größte Gruppe der Sachverständigen und Autoren, die vom BVerfG genannt werden, von schwerwiegenden Haftschäden ausgingen. Darunter Roxin, Müller-Dietz, Maurach, Einsele etc..|70 Der Gesetzgeber ist weder der ihm vom BVerfG auferlegten Beobachtungspflicht zur Frage der Haftschäden nachgekommen, noch hat er sich um einen eingeforderten Behandlungsvollzug zur Vermeidung von Haftschäden gekümmert  - wahrlich genug weitere Gründe, sich für die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe einzusetzen

Kinzig weist auch auf die dramatisch gestiegenen Verurteilungen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe hin: Anfang der 1990er Jahre 50 Prozent der wegen vollendeten Mordes Verurteilten, mittlerweile zwischen 70 und 80 Prozent|71 . Und die Verdoppelung der in lebenslanger Freiheitsstrafe einsitzenden Gefangenen zwischen 1984 (1.020) und 2011 (2.048 Gefangene).|72 Schließlich: Fast 10 Prozent der Beendigungen der lebenslangen Freiheitsstrafe in 2013 resultieren auf dem Tod der Gefangenen, einschließlich Suizid.|73
Die Expertenkommission kam dennoch zu einer Entscheidung von 11 Ja-Stimmen – 0 Nein-Stimmen – 4 Enthaltungen zu der grundsätzlichen Beibehaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe.|74 Die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord sei »sozialethisch gleichsam die „Leitwährung“ des Strafrechts….erfülle mit ihrer „Kommunikations-Symbol- und Signalfunktion“ – insoweit an die Stelle der früheren Todesstrafe tretend – wichtige integrative Aufgaben- … sie berücksichtige die Vergeltungserwartungen der Allgemeinheit«|75 - eben auch und vor allem die der Hilfssheriffs und Bautzenanhänger.
Diese Formulierungen »machen nachdenklich«, meint Momsen im Strafverteidiger.|76

Denkt man jetzt einmal für einen Augenblick an die oben zitierten Strafvorstellungen nur junger Juristen (nicht der Allgemeinheit), ihrer Einstellung zur Todesstrafe, müssten den Verwendern dieser Argumente allerdings meiner Meinung nach die Schamesröte ins Gesicht schießen, im Protokoll ist davon nichts berichtet. Noch beschämender aber ist die Tatsache, dass niemand, auch kein anwaltlicher Vertreter, dagegen gestimmt hat: »Einige (Experten) stimmten….aus pragmatischen Gründen für die Beibehaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe« heißt es im Bericht.|77

Wir haben uns vor 40. Jahren in Opposition zur Politik und Justiz gegründet, wir sind in diesen 40 Jahren oft in Opposition gewesen, um die Einschränkung von Beschuldigten- und Angeklagtenrechten zu verhindern. Wir werden auch in Zukunft in Opposition bleiben müssen, auch wenn dies nicht bedeutet, dass wir nicht mitarbeiten an notwendigen Reformen. So haben wir z.B. einen eigenen Vorschlag zur Änderung der Tötungsdelikte rechtzeitig unterbreitet. Wir waren aber eines nie und dürfen es auch nie werden: Ein Koalitionspartner, der vorauseilend Prinzipien aufgibt, um vermeintlich Schlimmeres zu verhindern. Die Forderung nach Abschaffung der lebenslangen und überlangen Freiheitsstrafen und der Sicherungsverwahrung sollte – nicht nur für uns - nicht zur Disposition stehen.

Klare und unverwechselbare Positionen, eine klare Grundeinstellung, eine klare Haltung ist aber nicht nur in der rechtpolitischen Arbeit unverzichtbar, sondern auch im Umgang miteinander, mit den Mandanten, gegenüber Richtern und Staatsanwaltschaft. Ich will hier keine neue Ethik-Diskussion beginnen, aber einige, wie ich meine, unverzichtbare Standpunkte erläutern.

Ich habe es schon zitiert, was in vielen Satzungen unserer Vereinigungen steht: Jeder Verteidiger hat mit allen Mitteln, die das Gesetz ihm zulässt und die ihm sein Können gibt, die Interessen des Beschuldigten/Angeklagten zu vertreten – im Kampf für das Recht aller, im Zweifel für die Freiheit. Kolleginnen und Kollegen auf der Nebenklagebank können diese in Satzungen festgelegten Grundsätze unserer Arbeit gerade nicht verwirklichen, sie arbeiten am Gegenteil. Auch bin ich überzeugt, dass der beliebige Einsatz für Beschuldigte/Angeklagte bzw. Verletzte, oft damit verbundene sich widersprechende rechtliche Ausführungen dem Ansehen, dem Respekt der handelnden Personen bei den zu einer Entscheidung Berufenen schadet.

Ein anderer Punkt:
Bereits in einem Arbeitspapier zur Vorbereitung des zweiten Strafverteidigertages 1978 in Hamburg, ist postuliert worden, dass kein Verteidiger berechtigt oder verpflichtet ist, einen Beschuldigten/Angeklagten gegen dessen Willen zu verteidigen. Diese Position ist selbstverständlich, bedeutet aber auch, dass unserem Selbstverständnis entsprechend, eine Stellungnahme zu einem Pflichtverteidigerwechsel auf Wunsch des Beschuldigten/Angeklagten nur lauten kann: Ich trete einem Pflichtverteidigerwechsel nicht entgegen.
Natürlich ist uns allen bekannt, mit welchen Methoden Kollegen insbesondere in den Justizvollzugsanstalten Beschuldigte überreden, einen Pflichtverteidigerwechsel zu beantragen, entsprechende Schreiben vorfertigen. Sicher haben wir oft gute Gründe anzunehmen, dass sich mit dem beantragten Pflichtverteidigerwechsel die Position des Beschuldigten verschlechtern wird – trotzdem, verbietet es sich m. A. n. sich einem solchen Wunsch zu widersetzen oder gar inhaltliche Ausführungen dazu zu machen.

Natürlich ist diese klare Haltung auch gefordert, wenn man angefragt wird, ob man als Sicherungsverteidiger beigeordnet werden will. Gegen den ausdrücklichen Wunsch eines Angeklagten verbietet sich dies genauso wie in Fällen, die die Kollegin Lang aus München im Heft 6 des Freispruchs geschildert hat, dass das OLG Stuttgart vor der Beiordnung eines gewählten Verteidigers verlangte, dass dieser die Erklärung abgibt, sich während einer Unterbrechung der Hauptverhandlung in das Verfahren einzuarbeiten und daher keinen weiteren Aussetzungs- bzw. Unterbrechungsantrag stellen werde.|78

Auch ist es nicht möglich, sich nach über zweijähriger laufender Hauptverhandlung in einer dreiwöchigen Pause in den Prozessstoff von über 230.000 Blättern einzuarbeiten und auch als vierter Pflichtverteidiger keinen Aussetzungsantrag zu stellen.

Um es klar zu sagen, ich denke selbstverständlich nicht an Anzeigen bei den Kammern oder Ausschlussverfahren innerhalb unserer Vereinigungen – ich setze auf offene Diskussionen!

Ein klares Profil, eine klare Grundeinstellung einzunehmen kann und darf m. A. n. aber auch nicht bedeuten, künstliche Ausgrenzungen vorzunehmen. Ich spreche von der Tatsache, dass auch wir uns jahrelang an einer künstlichen Abgrenzung zwischen der Blut-, Gift-, Sperma-Abteilung und der Abteilung Compliance, sprich Wirtschaftsstrafsachen – beteiligt haben. Dies ist aus inhaltlichen wie auch aus personellen Gründen überhaupt nicht nachvollziehbar. Dies trifft in gleichem Maße übrigens für die bereits erwähnte Nebenklagevertretung zu. Das Problem sind nicht die Kollegen, die eine Nebenklage vertreten; das Problem ist das Institut der Nebenklage und die gravierenden Auswirkungen für das strafrechtliche Verfahren der Wahrheitsfindung.
Bedeutsame Entwicklungen, wie das Selbstleseverfahren oder die Einschaltung privater Institutionen in die Ermittlungen haben u.a. ihren Anfang in Wirtschaftsstrafsachen genommen und damit maßgebliche Bedeutung für die Strafverteidigung gewonnen. Z.B. kommt aus dem Wirtschaftsstrafrecht ein Beschluss des Landgerichts Gießen, eine Formulierung, die von grundsätzlicher Bedeutung für die Strafverteidigung ist:
»Verteidigung kann auch schon stattfinden, wenn gegen den Betroffenen noch nicht förmlich ermittelt wird, wenn nur der Rechtsanwalt aus gutem Grund seine Tätigkeit materiell als Verteidigung ansehen darf«.|79

Eine Entscheidung u.a. natürlich von großer Bedeutung für ein Beschlagnahmeverbot von Verteidigungsunterlagen. Mit der Durchführung der Arbeitsgemeinschaft zum neuen Korruptionsstrafrecht morgen machen wir sicherlich einen kleinen Schritt zur Auflösung dieser künstlichen Trennung.

Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt für mich ist der Umgang mit jungen Kollegen.
Sie als Kuschel-Verteidiger zu diffamieren und sie links liegen zu lassen, schadet uns allen und den Interessen unserer Mandanten. Einem jungen Kollegen, der in der Mittagspause nicht mit mir gesehen sein will, aus Angst, er werde zukünftig nicht mehr beigeordnet, nur den Aufsatz von Richter II zur Sockelverteidigung|80 in die Hand zu drücken und sich für einen tollen Hecht zu halten – war und ist genauso falsch wie arrogant.

Insbesondere junge Kollegen anzusprechen, sie versuchen mitzunehmen und zu begeistern und auch verhindern, dass Verteidiger von den Gerichten gegeneinander ausgespielt werden können, dient den Beschuldigten, steigert – und das darf ruhig auch einmal gesagt werden – den Lustfaktor und steht meiner festen Überzeugung nach langfristig einem wirtschaftlichen Erfolg nicht entgegen.
Aus einer klaren Haltung und Position und einer qualifizierten Verteidigung heraus folgt Respekt - Respekt, den Mandanten aber insbesondere auch Staatsanwaltschaften und Gerichte uns entgegenbringen. Aus diesem Respekt folgt die Bereitschaft der Gegenseite, unseren Argumenten zuzuhören, eine andere Lesart eines Geschehens, welches durch Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss für wahrscheinlich gehalten wurde, zur Kenntnis zu nehmen und damit eine wichtige Voraussetzung letztendlich für Erfolg zugunsten der Beschuldigten zu schaffen.

Ist es nicht unvergleichbar befriedigender, eine Anforderung aus der JVA zu erhalten, von Mandanten, die berichten, man sei ihnen empfohlen worden, als jemand, der sich engagiert, einsetzt, als zum x-ten Mal nach Klüngelrunden vom gleichen Richter beigeordnet zu werden, in der Erwartung, keine großen Schwierigkeiten zu machen?

Für klare Grundhaltungen – »der Streit verlangt«|81 ist der Begriff Konfliktverteidiger selbstverständlich und eher eine Auszeichnung. Unsere Mandanten haben einen massiven Konflikt. Sie sehen sich einem Staatsanwalt gegenüber, der aufgrund seiner Ermittlungen der festen Überzeugung ist, unser Mandant habe sich strafbar gemacht, der ihn angeklagt hat. Er sieht sich einem Gericht gegenüber, das mit einem Eröffnungsbeschluss dokumentiert, dass es die Ansicht der Staatsanwaltschaft teilt. In diesem Konflikt, ob der Mandant behauptet, er sei unschuldig oder nicht, zu verteidigen, heißt – wenn man seine Aufgabe ernst nimmt: Konfliktverteidigung.

Um unseren Positionen Gehör zu verschaffen und hohe Qualitätsmaßstäbe zu garantieren, halte ich es auch für absolut notwendig, sich in die studentische Ausbildung, in die Ausbildung zum Fachanwalt einzumischen. Es reicht nicht aus, dass neben dem Republikanischen Anwaltsverein nur die Hessische Vereinigung Fachanwaltskurse anbietet, ansonsten der Markt beherrscht ist von Privatanbietern. Es ist wichtig, schon frühzeitig Studenten für die Ideale der Strafverteidigung zu begeistern, umso erfreulicher ist es, dass hier in Frankfurt erstmals in Zusammenarbeit mit der Universität Frankfurt über 100 Studenten an diesem Strafverteidigertag teilnehmen. Ich hoffe, dass wir auch Ihnen – neben unseren Prinzipien und Positionen – etwas von der Lust und Leidenschaft des Berufes Strafverteidigung vermitteln können, ohne die dieser nicht funktioniert und – gibt es einen besseren Beleg dafür, als der Zuspruch zu unserer diesjährigen Veranstaltung mit über 800 Teilnehmern.

Naucke kommt im Schlussbeitrag des Bandes vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, dem ich den Titel geklaut habe, zu dem Ergebnis, dass es im Strafrecht eine humane Stetigkeit geben müsse, für Täter und für Opfer. Er diagnostiziert 1995 als Quintessenz, dass ein unmöglicher Zustand des Strafrechts entstanden sei. Es sei etwas anderes als Strafrecht entstanden, aber nichts Besseres.|82

Ich komme für die Strafverteidigung zu einem anderen Ergebnis:
Trotz unmöglicher Zustände, trotz unmöglicher Zumutungen gibt es die unerschrockene, aufrechte, nur dem Beschuldigten oder Angeklagten verpflichtete Strafverteidigung. Es ist und bleibt unsere Aufgabe, diese gegen alle Angriffe zu beschützen und sie auszubauen, indem wir sie jeden Tag leben. Diesen Kampf zu unterstützen ist seit 40 Jahren der Zweck der Strafverteidigervereinigungen und diesem Ziel dient auch der diesjährige Strafverteidigertag.


1 Dahs, NJW 1976, Heft 47, S. 2145 f.

2 30. Jahre Strafverteidigertag, S. 23

3 Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Bd. 50, Frankfurt 1995

4 ebd. S. 5

5 Jahn, JZ 19/2014, S. 944

6 Schünemann, ZStW 114,S.23f.

7 Steller, Nichts als die Wahrheit? München 2015, S. 274

8 Süddeutsche Zeitung v. 14.4.15

9 vgl. Frahm, Die allgemeine Kronzeugenregelung, Berlin 2014, S. 19

10 ebd., S. 23

11 vgl. 30. Jahre Strafverteidigertag a.a.O. S. 259f.

12 vgl. König, StV 2012, S. 113

13 vgl. Frahm, a.a.O., S. 285

14 ...auf die insbesondere schon Malek [vgl. Malek, StV 2010, S. 200 f.] hingewiesen hat.

15 ebd. S. 203

16 ...auf die Wegerich aufmerksam gemacht hat (vgl. Wegerich, Moderne Kriminalgesetzgebung: Produzent von Parteiverrat?, Frankfurt 2015) und über die er morgen in der Arbeitsgruppe Mindeststandards der Strafverteidigung berichten wird.

17 vgl. Frahm, a.a.O., S. 307

18 ebd. S. 309

19 Frahm, a.a.O., S 293

20 Frahm, a.a.O., S. 318

21 vgl. BGH, NStZ 2001, S. 2557

22 vgl. BT-Drucksache 14/1928,S.8

23 vgl. Bernd Maelicke, Das Knast-Dilemma, 1.A., 2015,S. 238

24 vgl. BGH 48, 134f.

25 vgl. BGH48, a.a.O., BGH StV 2004,72

26 vgl. BGH, NStZ 2002, 646

27 vgl. Noltenius, GA 2007, S.530

28 vgl. Walter, StraFo 1998, S.84

29 vgl. Barton, Opferschutz und Verteidigung, Beitrag zum 36.Strafverteidigertag 2012

30 vgl. Wolfgang Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionspraxis in Deutschland 1882-2012

31 vgl. Kinzig, StV 2015,S.261f.

32 Malek in: Abschied von der Wahrheitssuche, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, Bd.35, S.22

33 ... trotz einer ganz anderen Situation im Gegensatz zu den Anfangsjahren unserer 40-jährigen Geschichte, als wir noch in den Jahren von 1950 bis 1990 als höchste Ankläger der Bundesrepublik Deutschland als Generalbundesanwälte nur Männer hatten, die ausschließlich NSDAP-Mitglieder waren, wobei der letzte dieser Generation, Rebmann, nicht davor zurückschreckte, die Wiedereinführung der Todesstrafe durch nachträgliches Urteil in die Diskussion zu werfen. Der Kollege Martin Lemke hat vor drei Jahren im Eröffnungsvortrag in Freiburg diese unrühmliche Geschichte dargestellt (vgl. Lemke, Die Akzeptanz des Rechtsstaats in der Justiz, in: Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen Bd.37, S, 9f.).

34 DRiZ, Dez 2009, S. 349f.

35 vgl. Strecker, Justiz von unten, Karlsruhe 2015, S. 61

36 ebd., S.76f.

37 ebd., S. 83

38 Schünemann, StraFo 5/2015, S.185

39 Sommer, StV 14,S.60

40 Fischer, StV 08,S.424

41 a.a.O.

42 FR v.10.06.15

43 FR v. 18.09.2014

44 Wagner, Vorsicht Rechtsanwalt, München 2014, S. 11

45 ebd. S. 13

46 ebd. S. 234

47 ebd. S. 205

48 ebd. S. 206

49 ebd. S. 232

50 Fischer, StV 14, S.47

51 ebd. S. 205

52 ebd. S. 199

53 vgl. 30.Jahre Strafverteidgertag,S.37

54 vgl. Jahn, Festschrift für Rissing-Van Saan, S. 295

55 Drucksachen 17/1131 und 17/1253, Abgeordnetenhaus Berlin, 17.Wahlperiode

56 vgl. Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, I B 1 – 1441, v.11.4.2014

57 vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, 17.Wahlperiode, Beschlussprotokoll Recht 17/56 v.15.4.2015

58 vgl. Bernsmann, StV 00, S. 40

59 Kempf, Geldwäsche und Honorarannahme, Referat für die Beratungen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 1999

60 Dahs, NStZ 2004, S. 261

61 Wagner,  a.a.O.

62 vgl. Sicher ist sicher, Policy Paper der Strafverteidigervereinigungen, 2010

63 ZEIT ONLINE v. 12.12.2013

64 vgl. 2 StR 556/13 und 2 StR 38/14

65 vgl. Pollähne, Freispruch Nr.7, Sept.2015, S. 1f.

66 vgl. ZEITonline v. 6.4.15

67 vgl. Bericht der Expertenkommission zur Reform der Tötungsdelikte S. 178

68 ebd. S.178

69 ebd. S. 168

70 ebd. S.540f.

71 ebd. S. 563

72 ebd. S. 566

73 ebd. S. 569

74 ebd. S. 21 und 54

75 ebd. S. 54

76 StV 12, 2015, S. I

77 Bericht der Expertenkommission S. 54

78 Lang, Freispruch, Heft 6, Febr. 2015, S. 16

79 Vgl. LG Gießen, wistra 2012, S. 409

80 Richter II, Sockelverteidigung, NJW 1993, S. 2152 f.

81 vgl. Fischer, StV 1, 2014, S. 53

82 Nauke, Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 498

 

Thomas Scherzberg:
Vom (unmöglichen) Zustand der Strafverteidigung, Eröffnungsvortrag des 40. Strafverteidigertages, Frankfurt am Main 2016

Alle Rechte am Text liegen beim Autor - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung des Autoren.